Ja, ich habe - wie alle anderen Menschen - ein Löscherlebnis gehabt:
Als ich noch Künstler war, besaß ich ein Heft. Es war ein kleines, aber dickes Heft mit
einem gelben Umschlag. Dort notierte ich alles, was mit meiner künstlerischen Arbeit
zu tun hatte. Ideen und Einfälle für einzelne Werke, Beschreibungen von Installationen
oder von Objekten, versehen mit Zeichnungen, Detailansichten, technischen
Beschreibungen und Angaben zum Material, zu den Maßen oder zur Bauweise. Alles,
was zu tun war. Es war praktisch eine Agenda meiner künstlerischen Arbeit. Die Werke
waren nicht nur gezeichnet, sondern auch kommentiert. In Notizen und Anmerkungen
entwickelte ich einen ganzen reflexiven Apparat, der meine Absicht somit explizit
machte. Zudem waren ganze Seiten mit reinen theoretischen Überlegungen gefüllt.
Ästhetische Probleme und philosophische oder politische Ausführungen fanden dort
Platz. Ich zeichnete eine intellektuelle Landschaft, die ausschließlich meine war.
Diese Notizen bestanden teilweise aus Ausstellungsrezensionen oder aus Bemerkungen
zu Kunstwerken, die ich irgendwo gesehen hatte und die für mich irgendeine
Bedeutung hatten.
Das Heft war also ein intellektuelles Tagebuch und ein Experimentierfeld. Es war mir
sehr wichtig, weil ich die Realisierung meiner Ideen nicht unbedingt brauchte, um sie auf
ihre Relevanz hin zu überprüfen. Es reichte schon aus, Einfälle zu notieren, sie gedanklich
durchzuspielen und theoretisch zu Ende zu denken, um schon eine kleine Entwicklung
zu machen. Ich glaube, dass alle Künstler - so wie irgendwie kreativ tätige Menschen -
solche Heften besitzen. Das gelbe Heft war nicht mein erstes, aber es war mein größtes
und vor allem mein bestes - weil mein aktuelles.
Vor beinahe zwanzig Jahren habe ich dieses Heft verloren. Ich war zu Besuch im Atelier
einer Freundin, irgendwo in einer landwirtschaftlichen Gegend bei Neuss. Ich weiß
heute nicht mehr mal, wo es genau war. Wie immer hatte ich mein Heft mitgenommen.
Ich verweilte ein wenig auf dem Gelände des Ateliers, ging spazieren und fuhr dann
zurück nach Düsseldorf. Ich habe den Verlust nur ein paar Stunden später gemerkt. Ich
bin dann wieder vor Ort gefahren, habe alles abgegrast, habe auf dem Atelierareal, auf
Feldern, im Auto und auf der Landstrasse gesucht. Aber es war verschwunden.
Mein gesamtes Werk, zumindest in seiner konzeptionellen Form, war ausgelöscht.
Zu meiner Verwunderung empfand ich keine Trauer, sondern nur ein bisschen Ärger.
Als ob dieses Ereignis absehbar war, als ob es irgendwann geschehen müsste.
Als mir klar wurde, dass ich es nie wieder finden würde, habe ich eine Rekonstruktion
des Heftes versucht. Die Aufgabe einer erneuten Redaktion von
Ausstellungsrezensionen oder von spontanen Beobachtungen war unmöglich und
absurd. Das verlorene Material (Stoffproben, einzelne Zettel, die ich in das Heft geklebt
hatte, Zeitungsausschnitte, etc.) war für immer weg. Und ich bekam die größten
Schwierigkeiten, mich an Werkideen zu erinnern. Installationen, die ich in der Zukunft
bauen wollte, Bilder, die ich realisieren wollte, waren verschwunden.
Im Nachhinein habe ich mir eine Erklärung über Verlust des Heftes zurecht konstruiert.
Dieses von mir verschuldete Auslöschen meines "Oeuvres" konnte kein Zufall sein. Der
Künstler, der eine solch gravierende Fehlleistung zustande bringt, sollte seine Kunst
sowie seine künstlerische Identität prinzipiell in Frage stellen. Wie wichtig kann ihm
seine Kreation sein, wenn er sie bereits im Stadium der Konzeption verliert?
Ich habe weiter gearbeitet. Aber ein Zweifel hatte sich zum ersten Mal manifestiert.
Ich habe noch fünf oder sechs Jahre gebraucht, um mir ein zu gestehen, dass ich nicht
für die Kunst bestimmt war. Ich bin dann, sage ich immer aus Scherz, erfolgreich aus der
Kunst ausgestiegen. Ich sage, ich hätte gekündigt und wäre kein Künstler mehr. Seitdem
brauche ich die Hefte nimmer und ich vermisse nicht mehr, was ich einst gelöscht habe.
Emmanuel Mir